Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht in den Jugendwerkstätten

Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Rat der Stadt Göttingen für den Rat am 17. August 2018

Der Rat möge beschließen:

Die Stadt Göttingen schafft ab dem 1.1.2019 – zunächst für 4 Jahre – in den Jugendwerkstätten der Beschäftigungsförderung Göttingen (kAöR) (BFGoe) die Möglichkeit, dass 15 Plätze für allgemeinschulpflichtige Jugendliche im Rahmen einer temporären Schulersatzmaßnahme zur Verfügung gestellt werden.

Um die Belastung für den Haushalt 2019 so gering wie möglich zu halten, tritt die Stadt Göttingen in Verhandlungen mit der BFGoe, um bestehende Ressourcen bestmöglich zu nutzen und einen möglichst großen Teil der Finanzierung über Eigenmittel der BFGoe sicherzustellen.

Begründung:

Das Thema Schulverweigerung ist in den letzten 10 Jahren mehr in den Focus der Öffentlichkeit gelangt, auf unterschiedlichen Ebenen wird auf das schulverweigernde Verhalten von jungen Menschen reagiert.

Die Gründe für schulverweigerndes Verhalten sind sehr verschieden, vielschichtig und komplex. Schulverweigerndes Verhalten darf nicht auf medizinisch-psychologische Aspekte reduziert werden, sondern ist stets auch in komplexe gesellschaftliche Bedingungen eingebettet. Hauptgrund des schulverweigernden Verhaltens ist der familiäre Kontext.

Das aktuelle Schulsystem ist grundsätzlich gefordert, fehlende Schülerinnen und Schüler rasch zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen zu deren Rückführung einzuleiten. Im Optimalfall gelingt dies, bevor das dauerhaft schulvermeidende Verhalten einsetzt.

Die Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht in den Jugendwerkstätten ist keine freiwillige Leistung, sondern eine kommunale Pflichtaufgabe gem. § 13 SGB VIII (Jugendsozialarbeit/ Jugendberufshilfe). Der Hauptgrund für den Bedarf ist nicht das Versagen des Schulsystems, sondern Probleme und Schwierigkeiten im familiären Kontext (s.u.). Sind junge Menschen einmal aus dem Schulsystem „herausgefallen“, ist es eine kommunale Aufgabe, sie wieder „hineinzubringen“.

Um dieser wichtigen Funktion gerecht zu werden, benötigt die Institution Schule Unterstützung, um die schulvermeidenden Zeiten so gering wie möglich zu halten. Volkswirtschaftlich gesehen erscheinen in Anbetracht der sehr hohen ökonomischen Folgekosten schulvermeidenden Verhaltens die hierfür erforderlichen Ausgaben mehr als gerechtfertigt.

(Quelle zu den aufgeführten Gründen: „Übersichtsarbeit: Schulvermeidendes Verhalten aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht, Martin Knollmann u.a., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters LVR-Klinikum Essen, Universität Duisburg-Essen, 2009“. Diese Ausführungen decken sich sehr gut mit unseren Erfahrungen.)

Folgende Merkmale zeichnen die Jugendwerkstätten bei der Arbeit mit Schulverweigerern aus:

  • Sie sind das einzige tagesstrukturierende (Vollzeit-)Angebot, das sinnvolle Beschäftigung, Erfolgserlebnisse und sozialpädagogische Begleitung mit der Erfüllung der Schulpflicht verknüpft. Die Jugendwerkstätten sind in der Lage, junge Menschen „von der Straße“ zu holen. Andere – ebenfalls sehr gute – Beratungsangebote können dies mangels tagesstrukturierendem Ansatz nicht leisten. Aufgrund ihrer psychischen und physischen Konstitution sind die Schüler/innen überwiegend nicht in der Lage, ein ebenfalls tagesstrukturierendes Praktikum auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bewältigen.
  • In den Jugendwerkstätten wird – durch Mitarbeit an „echten“ Aufträgen – motivierend und sinnstiftend an Arbeit herangeführt. Dadurch entsteht bei vielen Schüler/innen eine neue Motivation zum Schulbesuch und es wird ein Weg zu selbstbestimmter Lebensgestaltung geebnet.
  • Jugendliche lernen (häufig erstmals) das Leben und Arbeiten in einer konstruktiven Gemeinschaft kennen. Häufig übernehmen die Jugendwerkstätten die Funktion eines „besseren Familiensystems“.
  • Der Weg zu einer stationären pädagogischen Betreuung ist oft erst nach einem langen Antragsverfahren möglich (und dazu volkswirtschaftlich kostenintensiv).
  • Einer Aufnahme in das Angebot müssen alle Beteiligten zustimmen: Schüler/in, BFGoe, Schule, Eltern, Jugendamt).

Aktuell umfasst das Programm der Jugendwerkstätten 5 Bereiche (Tischlerei, Vitalia, Media-Office, KFZ-Metall, Bike-Inn). Aufgrund der gestiegenen Anzahl und der notwendigen Betreuungsintensität der Schulpflichterfüllenden wird die BFGoe in Zukunft eine Werkstatt auf diese Zielgruppe spezialisieren (Bike-Inn). Gleichwohl sollen auch die anderen 4 Werkstätten im Bedarfsfall für die Zielgruppe zugänglich bleiben.

Finanzielle Auswirkungen für den städtischen Haushalt:

15 Plätze x 12 Monate x 1.200 Euro/Monat = 216.000 Euro

2019: 216.000 Euro
2020: 216.000 Euro
2021: 216.000 Euro
2022: 216.000 Euro

Insbesondere für das Jahr 2019 kann und soll der Haushalsansatz durch Verhandlungen mit der BFGoe signifikant reduziert werden.